Vorgefertigte Techniken für maßgeschneiderte Lösungen?

Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist weltweit das am meisten genutzte Psychotherapieverfahren. Sie ist von allen therapeutischen Ansätzen das am besten wissenschaftlich Untersuchte und sie wird seit Jahren erfolgreich bei Patienten eingesetzt. Trotz dieser Erfolgsgeschichte sehen viele Therapeuten einige grundsätzliche Nachteile. So beschränkt sich die KVT in ihrer ursprünglichen Form auf die Arbeit mit den kognitiven Anteilen des Patienten, was bei der Annahme, dass psychische Erkrankungen in erster Linie emotionale Erkrankungen sind, zumindest fragwürdig klingt. Ferner geht es bei der KVT meist um die Bearbeitung von Symptomen, so dass die Ursachen unbewusst persistieren können. Zu guter Letzt arbeitet die KVT nach sehr starren Schemata und geht kaum auf die individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse des Patienten ein. Sie ist also eher verfahrensorientiert als patientenzentriert.

Wenn wir heute den Namen Milton Erickson hören, dann denken wir dabei automatisch an Hypnotherapie und vergessen oftmals, dass Erickson auch ein Vorreiter der patientenzentrierten Therapie und des damit verbundenen Begriffes „Utilisation“ war. In meinen Augen ist dies sogar ein noch viel wichtigeres Erbe Ericksons als die Hypnosetherapie. Er beschreibt dazu:

Diese Methoden beruhen darauf, die eigenen Einstellungen, Empfindungen, Denk- und Verhaltensweisen des Patienten zu nutzen. Es geht also um die Nutzung der eigenen Reaktionsmuster und Fähigkeiten des Patienten, anstelle des Versuchs, ihm durch Suggestionen das begrenzte Verständnis des Therapeuten aufzunötigen, wie er sich verhalten und was er tun sollte.

Heute tendieren moderne Psychotherapeuten gerade mit wachsender beruflicher Erfahrung dazu, sich aus starren Verfahrensmustern zu lösen und die Bedürfnisse und Wertvorstellungen der Patienten in die Therapien zu integrieren. Ihre Idee ist es, gemeinsam mit dem Patienten einen maßgeschneiderten therapeutischen Ansatz zu schaffen. Was vielen von uns heute selbstverständlich erscheint, war vor 50 Jahren, als Erickson diese Ideen publizierte, revolutionär. Um sich den soziologischen und therapeutischen Wandel der letzten Jahrzehnte einmal vor Augen zu führen, möchte ich gerne zwei Ereignisse aus ganz unterschiedlichen Bereichen aufführen. Entgegen dem Beschluss einer Kantonsversammlung am 29.04.1990 entschied das Schweizer Bundesgericht im November 1990, dass in der kompletten Schweiz das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Zwei Jahre später, 1992 trat das ICD-10 in Kraft, womit die bis dahin gängige Idee, dass es sich bei Homosexualität um eine Geisteskrankheit handle, die therapiert werden müsse, endlich der Vergangenheit angehörte.

Wenn man sich diese beiden Ereignisse aus den 90er Jahren vor Augen hält, dann wird einem sehr schnell bewusst, wie fortschrittlich Ericksons Thesen in den 70er Jahren gewesen sein müssen. Abschließen möchte ich diesen Abschnitt mit einem Zitat Milton Ericksons, welches seine Idee von der patientenzentrierten Therapie sehr anschaulich vor Augen führt: „Psychotherapie darf kein Prokrustes Bett für den Patienten sein[1].

Wie passen jetzt aber die Techniken des Hypnotherapeutischen Werkzeugkastens in die Ideen einer patientenzentrierte Therapie. Sorgen die Techniken nicht für ein starres Therapiekonstrukt bzw. ein festgelegtes Verfahren, in dem sich der Patient der Technik des Therapeuten zu beugen hat?

Nein, natürlich nicht. Die hypnotherapeutischen Techniken, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben, werden heute von Hypnotherapeuten genutzt, um ihren Patienten Umgebungen anbieten zu können, in denen diese Heilung finden können. Wir schaffen über unsere therapeutischen Angebote, also Möglichkeitenräume, in denen sich die Patienten frei bewegen und mit der Unterstützung des Therapeuten, maßgeschneiderte Lösungen entwickeln können. Die meisten Techniken fokussieren auf unterschiedliche Trancephänomene über deren Nutzung psychische Heilung begünstig werden soll. Hierbei werden verschiedene salutogenetische Ideen wie Resilienz, Heilungserwartung, Erkenntnis, Selbstwirksamkeit, Akzeptanz und Vergebung ermöglicht. Die Technik schafft dabei nur ein Umgebungsangebot, welches vom Patienten angenommen oder abgelehnt werden kann. Wenn das Angebot für den Patienten passt, dann entsteht somit eine Umgebung, in der der Patient mit Unterstützung des Therapeuten auf einer emotional-bildlichen Ebene an Lösungen arbeiten kann.

Wenn diese Umgebung dem Patienten allerdings nicht geeignet erscheint, dann wird der Therapeut sich sofort darum bemühen, eine andere Umgebung zu schaffen, die besser auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten ist. Um als Therapeut hier eine gute Flexibilität zu bekommen, für den Patienten immer wieder die richtigen Angebote im therapeutischen Repertoire zur Verfügung zu haben, ist es natürlich hilfreich einen gut gefüllten hypnotherapeutischen Werkzeugkasten zu besitzen.

In den kommenden Wochen werde ich in diesem Blog zwei therapeutische Trancen vorstellen, die ich 2022 im Rahmen eines Seminars in Österreich durchgeführt habe. Bei diesen Demonstrationen hatte ich mich jeweils nach dem Vorgespräch für eine bestimmte Technik entschieden, die dann aber nicht für die Kollegin passten. Daher bin ich während der Trance auf ganz andere Techniken umgestiegen, die dann von der Patientin gut als Umgebungen für ihre therapeutische Arbeit angenommen werden konnten und sich als sehr hilfreich heraus stellten.

 

[1] In seiner Weltgeschichte berichtet der altgriechische Geschichtsschreiber Diodor (1. Jahrhundert v. Chr.) folgendes über den Unhold und Wegelagerer Prokrustes: Prokrustes bot Reisenden ein Bett an. Wenn sie zu groß für das Bett waren, hackte er ihnen die Füße bzw. überschüssigen Gliedmaßen ab; waren sie zu klein, hämmerte und reckte er ihnen die Glieder auseinander, indem er sie auf einem Amboss streckte.


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